40 Jahre, 8.000 Kilometer, 2 Kulturen

8. April 2019
Buch "Into the Wild"
USA

Juli 2017. Ich reise seit drei Monaten alleine im Auto quer durch die USA und erfülle mir damit meinen Lebenstraum. Dabei übernachte ich fast nur privat bei Einheimischen. Als wir uns das erste Mal in der Wildnis von Wyoming als Fremde begegnen, ist er mein Gastgeber und ich bin die Durchreisende. Mein erster Gedanke: „Der sieht aus wie ein netter, vertrauensvoller, älterer Mann – da kannst du beruhigt übernachten!“ Drei Tage lang wandern, quatschen und lachen wir zwischen gewaltigen Bergen, fauchenden Geysiren und wilden Bisons. Am letzten Abend fahren wir eine Stunde lang schweigend in einen farbgewaltigen Sonnenuntergang. Als ich meine Reise fortsetze, heule ich auf den ersten 70 Kilometern alleine im Auto und kann mir selbst nicht erklären, was los ist. Nur, dass diese drei Tage die bewegendsten meiner gesamten Reise waren.

Wir bleiben in Kontakt und schreiben uns. Ich berichte von meinem Heimflug nach Deutschland. Von meinem neuen Bürojob, mit dem ich nach der langen Reise nicht klarkomme. Unsere E-Mails werden immer länger, unsere Gespräche immer intensiver. Im Februar 2018 schmeiße ich meinen Job und mache mich selbstständig. Als digitale Nomadin. Arbeiten von überall auf der Welt. Im April 2018 möchte er eine Europareise machen und mich in Berlin besuchen. Wir freuen uns. Dann wird er krank. Er muss die Reise wenige Tage vorher absagen. Ich bin traurig. Dann wütend. Vor fast fünf Jahren ist meine Großmutter vollkommen unerwartet über Nacht an einem Schlaganfall gestorben. Ich habe sie vorher zwei Monate lang nicht besucht, weil ich für Prüfungen an der Uni gelernt habe und dachte, wir hätten noch ewig Zeit. Hatten wir nicht. Mich packt ein Sturm aus Entschlossenheit. Ich setze mich ins Auto, fahre ins Reisebüro und buche spontan einen 30-stündigen Flug mit drei Umstiegen in die USA. Wenn er nicht zu mir kommen kann, komme ich eben zu ihm. Das Leben ist zu kurz, um zu zögern. Als mir die Dame im Reisebüro sagt, wie lang und teuer der Flug ist, sage ich „Ist mir egal“ und renne danach draußen vor Freude fast vor eine Straßenlaterne.

Oktober 2018. Wir sehen uns wieder. Als Freunde. Zwei Wochen lang unternehmen wir endlose Roadtrips durch Wyoming und Montana. Unterwegs spielen wir ein Spiel, bei dem wir uns gegenseitig sehr persönliche Fragen stellen, die jeder mit totaler Ehrlichkeit beantworten muss – egal wie peinlich oder hart die Antwort ist. Irgendwann habe ich das Gefühl, ich kenne ihn schon seit 20 Jahren. An einem Abend lehne ich mich allein in meinem Zimmer an die Wand und lache albern. Ich fühle etwas, von dem ich nicht glauben kann, dass ich es fühle. Am letzten Abend fahren wir in den Sonnenuntergang. Wieder. Die letzte Frage kommt auf den Tisch. „Was würdest du am meisten bereuen, nicht gesagt zu haben, falls du heute Abend sterben würdest?“ Er sieht mich an. Lange. Dann sagt er: „Ich habe mich in dich verliebt.“ Ich schaue in die Dunkelheit. Es geht nicht. Er ist zu alt, lebt 8.000 Kilometer entfernt und ich habe in Deutschland einen Freund. Mit dem kracht es zwar schon seit einiger Zeit aufgrund meines permanenten Reisefiebers aber ich würde nie auf die Idee kommen, ihn zu betrügen.

Am nächsten Tag fliege ich nach Hause. Als ich zu den Gates gehe, laufen mir vor allen Leuten die Tränen über das Gesicht. Ich blicke auf das Rollfeld und flüstere zu mir selbst: „Du solltest nicht gehen. Es ist falsch.“ Aber ich weiß auch nicht, was richtig ist.

Wenige Tage später in Deutschland beende ich meine achtjährige Beziehung und ziehe Hals über Kopf aus. Meine beste Freundin sagte einmal: „Wenn du etwas so Starkes für einen anderen empfinden kannst, musst du dich trennen – denn es zeigt, dass etwas nicht mehr stimmt.“ Ich sitze in meiner neuen WG, habe eine dicke Erkältung und fühle mich, als müsste ich sterben. Was jetzt?

Wir beschließen, etwas Verrücktes zu tun und uns noch in diesem Jahr in Europa wiederzusehen, um herauszufinden, was wir jetzt eigentlich sind und was zwischen uns passiert ist. Wir entscheiden uns für Paris – wegen des Films „Casablanca“.

Dezember 2018. Ich bin um drei Uhr nachts fünf Kilometer vom Airbnb aus zu Fuß durch Paris gelaufen, um ihn am Flughafen zu überraschen. Ich halte zwischen einem Haufen Anzugträgern ein Schild mit einer liebevoll-bekloppten Begrüßung hoch. Alle starren mich an. Dann sehen wir uns. Bevor einer von uns ein Wort sagen kann, küssen wir uns. Und wissen in dieser Sekunde, was wir sind und was zwischen uns passiert ist. Liebe. Egal, wie viele Jahre, Kilometer und Kulturen zwischen uns liegen. Wir verbringen eine total verrückte Woche in Paris. Da wir wissen, dass wir wegen des Altersunterschieds nicht so viel Zeit haben werden wie andere Paare und wir uns sowieso abseits jeglicher Norm befinden, fragt er mich gleich mal spontan, ob ich ihn heiraten will. Ich sage Ja. Weil ich weiß: Er ist es.

März 2019. Ich stehe am Flughafen Amsterdam und halte bunte Heliumherzen in die Luft. Zwei Wochen lang reisen wir gemeinsam durch Europa, schaukeln barfuß am Strand, trinken um Mitternacht im Hotelzimmer Wein aus der Flasche und sind nicht einfach nur ein Liebespaar, sondern auch Seelenverwandte und beste Freunde. Nachdem er wieder weg ist, schreibe ich einen seitenlangen Liebesbrief auf Papier. Ich vermisse ihn fürchterlich. Aber ich habe meinen Job bereits im Dezember so organisiert, dass ich ihn in wenigen Wochen für mehrere Monate in den USA besuchen kann. Wenn wir darüber reden, nennen wir es schon jetzt voller Vorfreude „The Summer of Love“.

Fortsetzung folgt…

Wir haben das Buch „Into the Wild“ von Jon Krakauer dem Museum of Lovestories überlassen. Es handelt über den Abenteurer Christopher McCandless. Seine Geschichte inspiriert uns beide sehr – seine Reiselust, seine Neugier, sein radikales Denken und seine Risikobereitschaft. Wir finden uns in vielen Stellen des Buches wieder.

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